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NICHT LOSLASSEN

Ich gebe zu, der Titel ist etwas provokant. Schließlich geht es in nahezu allen Büchern und sonstigen Aufzeichnungen, die sich mit Buddhismus, Taoismus, Zen, Meditation, usw. beschäftigen, um das 1 große Wort: loslassen.

 

Auffällig hierbei ist allerdings, dass es unzählige Erklärungs- und Definitionsversuche des Wortes gibt, aber der Begriff genauso auffällig oftmals nicht im Sinne des Wortes praktiziert wird. Man sollte meinen, das sei bei Anhängern und Interessierten des Loslassen-Prinzips anders, zumal sie ja stets bemüht sind, loszulassen.  In der Praxis kommt es dennoch zu – ich nenne es – Bauchraumverletzungen. Konkretes Beispiel: Ein Mensch verletzt einen anderen Menschen emotional, versteht aber nicht, warum – schließlich hat er nur losgelassen, so meint er.

 

Es scheint also ein Missverständnis vorzuliegen, was sich nicht durch eine weitere Definition des Begriffes „Loslassen“ lösen lässt.

 

Die Mathematik sowie die philosophische Logik kennen allerdings noch einen anderen Weg, sich einer Lösung zu nähern: das Ausschlussverfahren. Es wird also angegeben, was ein Begriff eben NICHT ist. (Und für alle Existentialisten unter den Lesern: was spiegelt einen Begriff eben nicht)

 

Eigenartigerweise wird diese Methode  in den fernöstlichen Aufzeichnungen fast nie angewendet. Das ist schade, denn aufzuzeigen, was Loslassen eben NICHT ist, ergänzt alle Definitionen dieses Wortes um ein vielfaches.

 

Die Frage lautet also: was ist Loslassen eben NICHT? Was gehört nicht in die Grundbedeutung dieses Begriffes rein?

 

Und wenn Sie sich von der Seite diesem Prinzip nähern, werden Sie feststellen, dass Loslassen sehr sehr vieles eben NICHT bedeutet.
Z.B. bedeutet Loslassen nicht: fallenlassen. Es bedeutet auch nicht: Verbindungslosigkeit. Loslassen bedeutet auch nicht: tun und lassen zu können, was man will – und der andere macht sein eigenes Ding. Z.B. durch letztere Ausschlussdefinition wird klar, was loslassen von Egoismus trennt. Eine reine Definition von loslassen hätte das nie gekonnt.

 

Ich möchte am Ende des Gedankenanstoßes noch ein praktisches Beispiel geben:

Ein Kind fragt bei der Verabschiedung von seinen Eltern: „Holt ihr mich heute nachmittag wieder ab?“

Nach dem missverstandenen Loslassen antworten die Eltern hierauf: „Ach, weißt du, wir haben heute schon die neusten Verkehrsnachrichten gesehen & da gab es schon wieder zwei Tote. Vielleicht fahren wir jetzt zur Arbeit und sterben. Es kann soviel passieren. Also: Wir können dir nicht sagen, ob wir dich heute nachmittag wieder abholen – am besten, du rechnest nicht damit und freust dich, wenn’s doch klappt.“ – Und sie meinen es ernst & ehrlich.
Doch: Das Kind wird weder Vertrauen aufbauen noch tiefe Liebe zulassen, sondern Angst wird da sein. Grund: Die Verbindung zur Grundbedeutung der Liebe wird gekappt.

Normalerweise sagen die Eltern aber einfach nur: „Ja.“ – und meinen auch dies ernst und ehrlich, selbst, wenn sie die Verkehrsnachrichten gelesen haben.

 

Loslassen bedeutet eben auch: Vertrauen in die Ewigkeit, obwohl alles ganz anders kommen könnte.  Loslassen bedeutet eben: sich und einen anderen nicht loszulassen.

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